Recherchereise 2017 – Danzig: Gleich das ganze 20. Jahrhundert in nur einer Stadt
Er als „Revolutionär“ sehe ja wie häufig Häuser eingerissen würden, um Neues zu bauen und manchmal sei das ja sogar auch schöner als das Alte. Europa, diese wunderbare Idee und vor allem ihre Kernländer – Frankreich, Italien, Deutschland – mögen sich doch bitte darauf vorbereiten, etwas Neues anzubieten, falls die Europäische Union an Polen und Ungarn zerbreche, sagt der erste Revolutionär des friedlichen Wandels in Ostmitteleuropa Ende der 1980er Jahre. So ein Moment bleibt im Gedächtnis von jedem, der sich für den Ausgleich zwischen Ost und West interessiert wie die Mitglieder von EOWA. Plötzlich steht Lech Wałęsa vor einem: Mit orangefarbener Kugelbrille, die offenbar das Sehen schärft, grauem Jackett, einfarbig-blauer Krawatte, etwas untersetzt.
Das Gesicht hat sich verändert, die Haare und der Schnurrbart sind weiß und doch ist es dieses weltberühmte Gesicht des Revolutionärs, der auf der Danziger Werft in den 1980er Jahren von einer Arbeitspritsche herunter die Revolution der Arbeiter gegen die Kommunistische Partei Polens ausgerufen hatte und so das Ende des Eisernen Vorhangs mit einläutete.
Das vorbereitete Kreisrund mit Stühlen in einem Seminarraum des Solidarność-Museums in Danzig wurde vor diesem Treffen kurzerhand wieder geändert. Auftritt Lech Wałęsa:
Der Mann liebt Frontal-Unterricht. Und dann geht’s los während der fünftägigen Studienreise der Europäischen Ost-West-Akademie im September 2017. „Los, stellt Fragen“, sagt Lech Wałęsa, voller Energie. Er sucht den Schlagabtausch und hält doch einen Vortrag, Fragen und Antworten flitzen wie Tennisbälle übers Netz.
Die aktuelle antideutsche und antieuropäische Regierung in Polen? „Das ist die dümmste Sache, die passieren konnte“, sagt Wałęsa. Polen gehe es wirtschaftlich gut, das Land entwickle sich in die richtige Richtung, sagt er und meint wohl vor allem den Alltag seiner Landsleute, das was ihn eigentlich interessiert. „Ich weiß selbst gar nicht, wen ich wählen soll. Ich gehe nicht wählen.“Nicht mehr offenbar und dabei fühlt er sich eins mit seinen Landsleuten: „Über 50 Prozent ist gar nicht zur Wahl gegangen.“
Der Ort des Gesprächs hat seinen ganz eigenen Zauber: Das Danziger Solidarność-Museum ist Ausstellungs- und Veranstaltungsort zugleich. Ein Museumstempel, der alle mögliche Kultur vereint.
Das große Foyer ist auch Konzertsaal und wird von den Ausstellungsflächen umgeben: Der Beginn der Solidarność-Bewegung, ein ehemaliger Decken-Kran aus der Werfthalle. Im vorletzten Raum gibt es auch Fotos vom Showdown. Die kommunistische Partei Polens ist gestürzt – noch vor dem Ende des SED-Regimes in Ost-Berlin – und um die runden Tischen sitzen so Lichtgestalten wie Lech Wałęsa, der spätere Nachwende-Ministerpräsident Polens, Tadeusz Mazowiecki und plötzlich dieses verstörende Foto der Brüder Lech und Jarosław Kaczyński, der heutige Parteivorsitzende der rechtspopulistischen, antieuropäischen polnischen Regierungspartei PiS.
Diese fünftägige Bildungsreise in Danzig ist geprägt von solchen Momenten und wird am besten vom Leiter des Solidarność-Museums, Basil Kerski, zusammen gefasst.
Der bekannte Analyst Polens von der friedlichen Revolution der 1980er Jahre bis heute ist nachdenklich. Eines sei neu an den derzeitigen politischen Verhältnissen. „Das Prinzip ist einfach“, sagt Basil, „das Komplexe ist nicht mehr gefragt.“ Auch nicht bei der katholischen Kirche, die immer ein pro-europäischer Stabilitätsfaktor war, „heute fällt sie dafür aus.“ Es ist ein Gefühl von Blümeranz auf der einen und Begeisterung über die kulturelle und politische Fülle Danzigs, die diese Reise prägt.
Dabei auch ein Besuch bei der Gedenkfeier zum Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges auf der Westerplatte, neben dem Ghetto von Warschau, Städten wie Breslau und Krakau und natürlich Auschwitz vielleicht einer der wichtigsten Fixpunkte Europäischer Geschichte des 20. Jahrhunderts in Polen. Der Weg führt vom Hauptbahnhof mit Straßenbahn und Bus bis zum Park der Westerplatte. Es gibt Sicherheitskontrollen, weil die Staatsspitze da ist. Schlange stehen mitten in der Nacht. Und doch lassen das ein paar hundert Menschen über sich ergehen, um bei dem Moment dabei zu sein. Jeder, der mag kann einen Kranz niederlegen und wird dafür eigens ausgerufen. Und dann gibt es da einen Moment, der wiederum tiefes Nachdenken auslöst: Der Bürgermeister von Danzig gehört der liberalen Bürgerrechtsplattform des amtierenden Europäischen Ratspräsidenten Donald Tusk an, dem früheren liberal-konservativen Ministerpräsidenten Polens. Doch die Garde der staatlichen Vertreter sehen sich alle in schärfster Opposition zum Hausherrn: Die frühere Ministerpräsidentin Beata Szydlo steht da neben ihren Ministern und Präsident Andrzej Duda.
Selbst bei diesem Moment der Trauer um die Weltkriegstoten und den von Hitler-Deutschland angezettelten Weltkrieg ist da kein Moment der Einigkeit. Später am Morgen wird klar, was dahinter steckt. „Denken Sie daran, dass nicht ganz Polen ,Recht und Gerechtigkeit’ heißt“, sagt der Danziger Bürgermeister Pawel Adamowicz beim Gespräch. „Das war kein normaler Machtwechsel, wir haben es hier mit einem Präzedenzfall zu tun.“ Und man werde den überwinden „wie eine Krankheit oder die Pubertät.“ In Osteuropa zeigt sich wie die „Softpower“ der EU in den vergangenen zehn Jahren erodiert ist. Die hinzugewonnene Größe der Osterweiterungen hat eben nicht wie von vielen gehofft, zu einem Zugewinn an Stärke geführt. Auch deshalb stellt sich wie während der 1990er Jahren wieder dringend die Frage der inneren Verfasstheit im Kern. Mit dem Vertrag von Lissabon hat das „Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ eine vertragliche Grundlage bekommen: Kein EU-Staat darf andere davon abhalten, wenn die voranschreiten und enger zusammen arbeiten möchten. Mit dem Vertrag von Schengen und der Eurozone ist dieses Europa von Autobahn und Landstraße bereits Realität. Da liegt es nahe jetzt den nächsten Schritt zu gehen und zumindest aus den Kernländern der Euro-Zone, die schon jetzt die Hauptlast innerhalb des ESM-Systems tragen, die Vereinigten Staaten von Europa zu bilden, beginnend mit der Verschmelzung der Finanz- und Wirtschaftspolitik, demokratisch legitimiert durch eine weitere Kammer des EU-Parlaments gewählt nach dem Mehrheitsprinzip durch die EU-Bürger der beteiligten Kernstaaten.
Europas Problem war schon immer das von „Zentrum und Peripherie“, sagt die ungarische Soziologie-Philosophin und Holocaust-Überlebende Agnes Heller. Eine andere Lichtgestalt aus Europas mittlerem Osten. Mit der Wahl Emanuel Macrons zum französischen Präsidenten besteht die Möglichkeit dieses Zentrum zu erweitern und neu mit Energie aufzuladen. Danziger Gedanken: Dem würde sich auch die Peripherie, zumal in Osteuropa, irgendwann nicht mehr entziehen können. Denn dort gelangt derzeit eine neue Generation aus den Universitäten, für die die Vorzüge der europäischen Einigung gelebte Realität sind. Bei den April-Demonstrationen in Budapest wie zuvor bei den pro-europäischen Protesten gegen die korrupte post-kommunistische Führungselite in Bukarest, waren zahlreiche Mittzwanziger, die den neuen Populismus in Osteuropa nicht mit tragen wollen, die zum Beispiel längst gewohnt sind anderswo in der EU zu studieren. Allein ihre Zahl reicht offenbar noch nicht dafür, die alten Eliten in Rente zu schicken. Für die nächsten zehn Jahre benötigen diese jungen Europäer im Osten einen politischen Resonanzboden, auf den sie sich berufen können: Die vereinigten Staaten von Kerneuropa. Mit Emmanuel Macron hat erstmals die Generation X der mit Beginn der 1970er Jahre Geborenen das europäische Projekt politisch in der Hand. Es ist die Generation Erasmus, die vor knapp zehn Jahren mit anschauen musste wie – über den Sonderfall Griechenland hinaus – ihre Gleichaltrigen in den südeuropäischen Schuldnerländern, in Spanien, in Portugal immer verzweifelter zu Hause die Koffer packten.
Danzig: Weltkrieg, Westerplatte, Wende und Wałęsa. Ganz schön viel auf einmal. Da tut literarische Entspannung gut. Das Geburtshaus Günter Grass gehört dazu.
Doch vor allem der Besuch bei Pawel Hülle, der selbst – es geht nicht anders in Danzig – einmal Solidarność-Mitstreiter war und heute einen Steinwurf vom Strand von Sopot entfernt lebt.Es ist ein fast zweistündiges Gespräch wie man es sich vorstellt bei einem europäischen Schriftsteller (Weiser Dawidek/1987, Castorp/2004): Über Werk und Zukünftiges, vor allem aber über den Ursprung seines Schaffens: „General Jaruzelski hat mir geholfen Schriftsteller zu werden.“ Das Kriegsrecht in Polen hat wie bei so vielen in diesem Land und vor allem in diesem kaschubischen Danzig den Widerstand gekitzelt. Es ist eine Biographie des Versteckens und Schreibens, der Wende und des Weiterlebens. Was ist da schon eine rechtspopulistische Regierung in Warschau?
Was fehlt? Ein Schluss. Doch der ist kurz: Wer in einer Gemeinschaft lebt, sagt der Revolutionär Lech Wałęsa, „hat Rechte und Pflichten“. Es gehe darum, „dass wir dieses Europa endlich machen“, sagt der Revolutionär. Und jagt den letzten Tennisball übers Netz: „Gibt es noch Fragen?“ Frank Hofmann